Es ist Frühling. Im Waldboden beginnt das grosse Unsichtbare: Regenwürmer graben, Pilzgeflechte bilden ihre Netze, Millionen Mikroorganismen starten das stille Werk ihres Jahres – Abbau, Humusbildung, Wasserpufferung, CO₂-Bindung. Der Waldboden funktioniert, wenn man ihn lässt. Doch genau diese Ruhe steht zur Disposition. Im Namen einer nachhaltigen Energieversorgung geraten ausgerechnet jene Böden unter Druck, die das Leben im Wald tragen – leise, zuverlässig, tief verwurzelt. Und plötzlich steht ein fragiles System im Schatten grosser Pläne.
In einem einzigen Kubikmeter leben bis zu 200 Regenwürmer, unzählige Bakterienkolonien, Pilze, Springschwänze, Milben, Fadenwürmer. Sie bilden das Fundament für alles, was darüber wächst. Die Mykorrhiza-Pilze, die sich an Wurzeln heften, verbinden Bäume untereinander – ein stilles Versorgungsnetz im Untergrund. Je grösser die unterirdische Vielfalt, desto stabiler das Ökosystem. Eine europäische Studie mit Beteiligung der Eidg. Forschungsanstalt WSL zeigt: Die Biodiversität im Boden ist hundertfach höher als an der Oberfläche – und entscheidend für Leistungen wie Wasserspeicherung, Luftreinhaltung, CO₂-Bindung oder Erosionsschutz.
Doch dieses System ist empfindlich. Wird der Boden verdichtet, versiegelt oder abgetragen, stirbt das Leben in ihm langsam, aber nachhaltig. Ein Zentimeter fruchtbarer Boden entsteht in der Schweiz in rund 100 Jahren. Ist dieser Kosmos einmal zerstört, bleibt die Fläche für Generationen geschwächt – oder verloren.
Schutz in Gesetz und Praxis – eigentlich
Der Schutz des Waldes – und seines Bodens – ist in der Schweiz tief verankert. 1876 entstand das erste eidgenössische Waldgesetz, als Antwort auf massive Entwaldungen, Erosionen und Überschwemmungen des 19. Jahrhunderts. Es legt bis heute fest: Die Waldfläche darf nicht schrumpfen und schädliche Nutzungen sind untersagt. Auch der Bodenschutz hat in der Schweiz eine lange Tradition. Seit 1983 ist der Bodenschutz erstmals explizit im Umweltschutzgesetz (Art. 33) verankert – und bildet die Grundlage für den Schutz dieser stillen Ressource. Konkretisiert wird dieser Schutz durch die Verordnung über Belastungen des Bodens (VBBo) von 1998. Diese schreibt unter anderem vor, dass Bodenverdichtungen, Abtragungen und die Vermischung von Bodenhorizonten möglichst zu vermeiden sind. Bei grösseren Bauvorhaben kann zudem eine bodenschutzfachliche Baubegleitung (BBB) verlangt werden. Im Kanton Zürich kontrolliert seit 1987 eine eigene Fachstelle die Einhaltung dieser Vorgaben.
Die verlangte Sorgfalt gegenüber dem Waldboden ist in der Forstwirtschaft längst gelebte Praxis. Während der alljährlichen Holznutzungssaison gelten klare Regeln: Schwere Maschinen dürfen nur auf sogenannten Rückegassen verkehren, um die restliche Bodenfläche zu schonen. Je nach Standort und Wetterbedingungen wird der Einsatz zusätzlich angepasst – mit Rücksicht auf das komplexe Bodenleben unter den Reifen. Es ist eine Praxis des vorausschauenden Handelns. Denn, wer heute im und mit dem Wald arbeitet, denkt an den Wald von morgen. Generationenschutz ist in der Forstwirtschaft kein Konzept, sondern gelebte Realität.
Eine Lücke im System: das „überwiegende öffentliche Interesse“
Zwar erlaubt das Bundesgesetz über den Wald (WaG) seit 1991 in Ausnahmefällen Rodungen – dann nämlich, wenn ein Vorhaben im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt und sich nicht anders realisieren lässt (Art. 5 WaG). Gemeint damit waren sicherheitsrelevante Infrastrukturen wie Strassen oder Stromleitungen. Heute erhält diese Regelung eine neue Dimension. Sie wird auf die geplanten Windkraftprojekte angewendet – und stellt damit bewährte Prinzipien des Wald- und Bodenschutzes in Frage.
Im Kanton Zürich sind derzeit bis zu 120 Windkraftanlagen in Planung – alle Anlagen, mit Ausnahme eines Eignungsgebiets, befinden sich am Waldrand oder im Wald. Pro Anlage werden – je nach Gelände – geschätzt bis zu fünf Hektaren Bodenfläche beansprucht: für Zufahrten, Trassen, Kranplätze, Lager und Fundament. Ein einzelnes Fundament misst bis zu 20 Meter im Durchmesser, reicht drei Meter in die Tiefe und besteht aus bis zu 3'000 Tonnen Beton. Hochgerechnet würde der Bau von zum Beispiel 100 Anlagen im Waldgebiet rund 500 Hektaren Wald beanspruchen – das entspricht in etwa 700 Fussballfeldern oder rund einem Prozent der Waldfläche im Kanton Zürich.
Baubegleitung mit Grenzen
Zwar schreibt das Schweizergesetz bei grossen Bauvorhaben wie Windkraftanlagen eine bodenkundliche Baubegleitung (BBB) vor – verankert in der VBBo. Fachpersonen sollen sicherstellen, dass der Boden fachgerecht ausgehoben, gelagert und wiedereingebracht wird. Doch im Wald stösst diese Praxis an physikalische Grenzen. Waldböden sind keine Substrate, sondern gewachsene Systeme. Sie lassen sich nicht verlustfrei „verpflanzen“. Wie Ivano Brunner von der WSL in einem Artikel von 2022 erläutert: „Der Boden ist kein Substrat, das man umplatzieren kann – er ist ein komplexes System. Wird seine Struktur zerstört, verliert er dauerhaft seine Funktion.“ Auch eine sorgfältige Baubegleitung kann solche Verluste nicht verhindern – nur abschwächen.
Die Energiestrategie 2050 der Schweiz setzt auf einen Ausbau erneuerbarer Energien – unter anderem auf Windkraft. Doch wenn dabei ein Naturgut verloren geht, das über Jahrtausende gewachsen ist, muss die tatsächliche Nachhaltigkeit solcher Projekte hinterfragt werden. Die Lebensdauer eines Windrads beträgt etwa 25 bis 30 Jahre. Der Waldboden aber ist kein blosser Untergrund, sondern ein tragendes Element im Waldsystem. Wer ihn opfert, weil „grüne Energie“ politisch attraktiv erscheint, riskiert den Verlust seiner stillen Grundlage. Und wie es im Synthesebericht des Nationalen Forschungsprogramms NFP 68 heisst: „Angesichts seiner Multifunktionalität und der langen Zeiträume, die es zu seiner Entstehung braucht, muss der Waldboden als eine nicht erneuerbare Ressource betrachtet werden.
... auch weitere Texte rund um Nachhaltigkeit sind auf meinem Blog zu entdecken: Das Hemd im Wind - und kein Stromzähler läuft
„Der Boden ist die Haut der Erde. Wenn wir ihn verletzen, leidet das ganze System.“ - Leonardo da Vinci