Sie sind winzig, uralt – und wirken bis heute: Cyanobakterien gehören zu den ersten Lebewesen der Erde. Sie haben die Atmosphäre mit Sauerstoff geflutet – und damit überhaupt die Grundlage geschaffen für alles, was atmet, wächst und lebt. Noch immer sind sie unter uns. Nur merken wir es meist nicht – ausser dann, wenn sie in Massen auftauchen: als grünlicher Schleier auf Seen, als schillernder Teppich auf dem Wasser. Ja, manchmal sind sie eine Gefahr – und vielleicht zugleich auch Hoffnungsträgerinnen für die Zukunft.
Sie ist ein Wunderwerk der Natur – und eigentlich verantwortlich für unser aller Dasein. Ohne sie gäbe es keinen Sauerstoff, kein Leben, kein Denken, kein Lächeln: die Cyanobakterie. Winzig klein und unsichtbar für das blosse Auge.
Vor über 3,5 Milliarden Jahren – als es noch keinen Sauerstoff in der Atmosphäre gab – begann sie mit etwas Unglaublichem: Sie nutzte Sonnenlicht als Energiequelle und gab dabei Sauerstoff ab. Still. Unbemerkt. Und niemand war da, um es zu bemerken.
Heute leben sie immer noch – fast überall. Auf Steinen. In Pfützen. In Schnee. In heissen Quellen. In feuchtem Moos. In einem einzigen Gramm Boden können über hundert Millionen Cyanobakterien vorkommen. In einem Liter Wasser – bis zu zehn Milliarden. Sie sind klein, nur etwa zwei Mikrometer gross. 40'000 von ihnen passen auf einen Stecknadelkopf. Und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen, dass Cyanobakterien bis heute rund 20 bis 30 % des weltweiten Sauerstoffs produzieren. Das heisst, jeder vierte Atemzug eines Menschen stammt von einem Wesen, das niemand sieht – aber alle brauchen.
Im ökologischen Gleichgewicht treten sie vereinzelt auf, eingebettet in fein abgestimmte Kreisläufe. Sie sind Grundnahrungsquelle für Mikroorganismen, binden Stickstoff, speichern Kohlenstoff, regulieren Systeme. Ja, sie tun dies seit langem – lange bevor der Mensch von „System“ sprach. Sie sind sogenannte Primärproduzentinnen – der Anfang jeder Nahrungskette, das Fundament, auf dem alles aufbaut.
Doch manchmal werden sie sichtbar – und zwar dann, wenn es zu viele werden. Wenn übermässig viele Nährstoffe ins Wasser gelangen – etwa durch Düngemittel oder Abwasser – und das Wasser sich erwärmt, kann das Gleichgewicht kippen. Dann vermehren sich Cyanobakterien explosionsartig. Und plötzlich erscheinen sie als schimmernder Schleier auf Seen, als grünlicher Teppich auf Küsten, als Blüte auf dem Wasser, die Fische, Amphibien und andere Tiere erstickt. Manche Arten produzieren sogenannte Cyanotoxine – schon wenige Mikrogramm pro Liter genügen, um Lebewesen zu schädigen. Die Gifte greifen Nerven, Leber oder Haut an – auch für Menschen kann das gefährlich werden.
Zwischen Superfood, Bioplastik und Weltall
Es gibt Tausende verschiedene Arten von Cyanobakterien. Einige leben als fadenförmige Zellketten, andere einzeln. Und: Manche davon sind sogar essbar. Arthrospira platensis, besser bekannt als Spirulina, wird in bestimmten Regionen seit Jahrhunderten geerntet. Heute gilt sie als sogenanntes Superfood – erhältlich in Pulverform, Tabletten oder als Zutat in Smoothies. Ein uraltes Bakterium – gegessen als Nährstoffbündel.
Und während man sie in einigen Regionen als Nahrung nutzt, wird sie andernorts als lebendiges Kraftwerk erforscht. An der University of Cambridge erforscht man, wie bestimmte Cyanobakterien unter Lichteinfluss Strom erzeugen – winzig zwar, aber messbar. Wie biologische Solarzellen. Auch an der ETH Zürich wird dazu Grundlagenforschung betrieben: zur Bioelektrizität, zur Effizienz der Photosynthese, zur CO₂-Bindung durch Mikroorganismen. Am Helmholtz-Zentrum in Leipzig wiederum arbeiten Teams daran, Cyanobakterien genetisch so zu verändern, dass sie Bioplastik produzieren – ein Material, das sich biologisch abbaut, weil es nie aus Erdöl bestand. Und in den USA – etwa an der Michigan State University und in Stanford – untersucht man Stämme, die Ethanol oder Butanol erzeugen können. Flüssige Energieträger – nicht aus Bohrung, sondern aus Wachstum.
Und dann ist da noch das All. Auf der Raumstation ISS überlebten Cyanobakterien monatelang – trotz UV-Strahlung, Schwerelosigkeit, Kälte. Sie produzierten weiter Sauerstoff, wandelten CO₂ – als hätten sie nie etwas anderes getan.
Sie ist unscheinbar. Uralte Zellstruktur. Sie ist Ursprung – und sie ist Gegenwart. Und vielleicht – wer weiss – produziert sie neben Sauerstoff bald auch Strom, frisst unseren Plastikmüll und fliegt mit uns ins Weltall. Die Cyanobakterie ist wahrlich ein Mikrokosmos mit Superkraft.
Legende zu Bild: Modellhafte, visuell abstrahierte Darstellung filamentöser Cyanobakterien (z. B. Anabaena oder Oscillatoria) in einer wässrigen Umgebung. Die (künstlerische) Illustration orientiert sich an mikroskopischen Formen und zeigt einen vereinfachten Tropfen, wie er in feuchten Böden oder Stillgewässern vorkommen kann. Cyanobakterien zählen zu den ältesten Lebensformen der Erde und produzieren durch Photosynthese bis heute einen wesentlichen Anteil des globalen Sauerstoffs. (Visualisierung mit Unterstützung von KI)
„The smallest organisms can wield the greatest power.“ – Antonie van Leeuwenhoek, „Vater der Mikrobiologie“