Eine Begegnung und ein Gespräch mit der Weinbergschnecke über Schleim, Stille und das Leben mit Haus:
Ich treffe sie frühmorgens, auf einem meiner täglichen Waldspaziergänge. Der Boden ist noch feucht, das Licht schimmert durch das junge Laub. Und da – mitten auf dem Weg – kriecht sie. Mit jener stoischen Gelassenheit, die nur Lebewesen haben, die schon vor Millionen Jahren wussten, was sie tun. Sie schaut nicht, sie spürt. Und als ich mich ihr nähere, zieht sie sich augenblicklich in ihr Haus zurück.
Ich knie mich hin und warte. Still. Bis langsam ihre Fühler erscheinen, ihr Kopf, ihr Körper. Millimeter für Millimeter.
Hallo, du. Hättest du vielleicht ein paar Minuten Zeit?
Schnecke: Ich habe nie etwas anderes.
Endlich sehe ich dich wieder. Ich habe dich vermisst. Wo warst du nur den Winter hindurch?
Schnecke: Ich habe geruht. Ganz unten im Laub, eingebettet in eine Schleimkapsel. Ich brauche keine Heizung. Nur Dunkelheit, Geduld – und ein wenig Feuchtigkeit.
Was bist du eigentlich genau?
Schnecke: (schmunzelt und zieht ein Fühlerpaar zurück) Ich bin eine Weinbergschnecke – Helix pomatia, um genau zu sein. Ich gehöre zu den Landlungenschnecken, eine echte Spezialistin für kalkreiche Böden und langsame Lebensfreude. Und ja, ich bin Zwitter – ich trage beide Geschlechter in mir. Ein Thema, das euch ja gerade ziemlich beschäftigt. Für mich ist es ganz normal. Meine Aufgabe in der Natur? Böden durchlüften, Pflanzenreste verwerten – und den Kreislauf des Lebens still voranbringen.
Wie ist das, sein Haus immer bei sich zu tragen?
Schnecke: Praktisch. Persönlich. Energetisch autark. Mein Haus besteht aus Kalk – ich baue es mit meinem Körper, Schicht für Schicht. Es macht etwa ein Drittel meines Körpergewichts aus. Es schützt mich, trägt mich, formt mich. Ich bin kein Nomade. Ich bin Architektur.
Du wirkst sehr gelassen.
Schnecke: Ich bin alt. Also nicht ich persönlich – ich bin vielleicht drei Jahre alt. Aber meine Art gibt es seit über 500 Millionen Jahren. Wir haben Dinosaurier überlebt, Eiszeiten überstanden. Und ihr fragt euch, warum wir langsam sind? Weil wir’s können.
Und der Schleim?
Schnecke: Mein Meisterwerk. Er schützt meine Haut, erlaubt mir, über scharfe Kanten zu gleiten, hilft mir beim Klettern, sogar an senkrechten Flächen. Und er ist voller chemischer Botschaften – damit finde ich Partner, Wege, manchmal sogar zurück. Manche nennen ihn eklig. Ich nenne ihn Kommunikation in Feuchtigkeit.
Du hast keine Ohren, keine Stimme – und doch wirkst du sehr präsent.
Schnecke: Präsenz ist kein Geräusch. Es ist das, was bleibt, wenn man nichts mehr sagen muss. Ich sehe mit Lichtrezeptoren auf meinen Fühlern, ich rieche mit Hautzellen, ich fühle mit meinem ganzen Körper. Und ich spüre, was der Boden erzählt – weit mehr, als ihr denkt.
Was denkst du über den Menschen?
Schnecke: Ihr seid laut. Schnell. Zielorientiert. Aber manchmal vergesst ihr zu fragen, wohin eigentlich. Ich würde euch gern zurufen: Man kommt auch an, wenn man langsam geht. Und manchmal sogar weiter.
Gibt’s etwas, wovor du Angst hast?
Schnecke: Oh ja. Ich habe viele Feinde – einige alt, einige neu. Drosseln zum Beispiel, die knacken mein Haus wie ihr Menschen Nüsse. Oder Igel, Kröten, Mäuse. Wir kennen uns. Das ist Natur. Aber heute sind es vor allem eure Erfindungen, die mir zusetzen: Pestizide, Rasentraktoren, Laubbläser, versiegelte Böden. Und invasive Arten wie der Tigerschnegel oder die Spanische Wegschnecke – die machen uns Einheimischen das Leben schwer. Und dann diese modernen Gärten… viel Kies, wenig Wildnis. Für uns ist das wie eine Wüste.
Philosophisch gesehen: Was ist für dich ein gutes Leben?
Schnecke: Eines, in dem man sich entfalten darf. Ohne Hast. Ohne Zielvorgaben. Ich wachse, wenn’s passt. Ich pausiere, wenn’s nötig ist. Und ich trage mich selbst durchs Leben. Was will man mehr?
Wenn du den Menschen einen Satz mitgeben dürftest?
Schnecke: Achtet auf das, was langsam ist. Es verschwindet sonst – und ihr merkt es erst, wenn es zu still geworden ist.
Danke, liebe Schnecke. Ich hoffe, du bleibst noch eine Weile hier.
Schnecke: Ich bleibe. So lange, bis mich niemand mehr sieht – und ich trotzdem da bin.
"Die Natur eilt nicht, und doch wird alles vollendet.“ - Laozi