Eine Kurzgeschichte: Es ist Zeit...

Es ist Zeit…

Sie streicht sanft über das saubere Tischtuch. Schon häufig wurde dieses gewaschen, gebügelt. Darauf sind Osterglocken gedruckt. Nicht viele. Nur ein paar einzelne. Die Farben der weissen-gelben Blüten sind etwas verblasst. Tick-Tack, tick-tick… Die Uhr an der Wand begleitet ihr Sitzen am Tisch, das Streichen über das Tischtuch. «Ja, das Tischtuch stimmt für die Jahreszeit nicht wirklich». Sie muss schmunzeln. Heute ist Sommer. Sonnenblumen wären als Tischtuch-Sujet passender. Aber solche Dinge waren ihr eigentlich nie wirklich wichtig. Was war für sie wichtig? «Ja, meine Familie, mein Garten.» Auch Osterblumen gedeihen in ihrem Garten.

Osterblumen – Osterzeit. «Ja, das Familienfest an Ostern war sehr schön. Beinahe alle sind gekommen. Der Platz rund um den Esstisch war etwas knapp. Eng sind wir zusammengesessen. Schöne Servietten hat Heidi mitgenommen. Es war ein lautes, fröhliches Geplauder aus jeder Ecke des Raums. Es fand das Traditionelle Eier-Tüschetis statt.» Tick-Tack, tick-tick... Die Sekunden verabschieden sich stetig – die Zeit vergeht. Ja, die Zeit vergeht. Heute ist Sommer. Genauer es ist August. Der 31. August. Tick-Tack, tick-tick... Und es ist Zeit. Die richtige Zeit. An Ostern hat’s begonnen. Wann ist denn die richtige Zeit? «Ja, der Gedanke musste reifen. Auch das Gefühl dazu musste gedeihen.»

Sie streicht mit ihren Händen sanft über das Tischtuch. Ihre Hände wurden in den Jahren knorriger, dünner und auch schwächer. Der goldene Ehering beinahe ein eingewachsener Bestandteil ihrer linken Hand. Mit der rechten Hand fasst sie sich an den Hals. «Ja, das ist Dein Ring und das ist gut so. Das Haus ist ohne Dich so gross.» Räume sind seit Jahren unbewohnt, unbeseelt. Ausser dem Schlafzimmer, Fernsehzimmer, die Küche und dem Esszimmer. In diesem Wohnbereich bewegt und lebt sie. Tick-Tack, tick-tick... Die Gedanken mussten reifen, mussten sich klären. Es brauchte alles seine Zeit. «Ja, auch an Muttertag sind sie alle gekommen. Es war ein lustiger Brunch. Es war kalt für die Jahreszeit. Sogar selbstgemachter Zopf und Konfitüre gab’s. Der Urenkel kroch unter dem Tisch herum. Drei Hunde tobten spielend im Haus herum. Eine gewisse Hektik kam auf.» Und welches Tischtuch schmückte den Tisch? «Ja, daran kann ich mich nicht erinnern.» Solche Dinge waren ihr nicht wichtig.

Tick-Tack, tick-tick… Sie sitz am Tisch auf ihrem Stuhl. Er steht schon lange am Tisch. Er ist etwas wackelig, nicht mehr so standfest. Auf dem Stuhl sassen schon viele Gäste – junge und alte, fröhliche und traurige Menschen. Sie brauchten jemanden zum Sprechen, jemanden der zuhört, jemand der für sie in diesen Momenten da war. «Ja, auch der Schwatz mit Freundinnen bei Kaffee und Guetzli waren meist gute Momente.»

Langsam, sanft streicht sie über das Tischtuch. Ihre Sitzhaltung hat sich in den letzten Jahren verkrümmt. Ihre Körpergrösse dadurch stark verkürzt. Tick-Tack, tick-tick … «Ja, die Zeit vergeht schnell. Ich habe mich entschieden.» Fritz hat ihr geholfen, drei neue Koffer zu bestellen – auf einer dieser Onlineplattformen. Koffer in knalligen Farben und viel Stauraum. Farben – Farben waren ihr schon immer wichtig. «Ja, die Welt der Farben liebe ich. Lieben? Ja, ich liebe die Blumen, die Menschen, die Vögel, wenn sie singen, liebe die Katzen, wenn sie keine Vögel jagen, ich liebe die Musik, vor allem Chorgesänge.» Tick-Tack, tick-tick... Sie streicht über das Tischtuch. Die Zeit vergeht und es wird Zeit. Die neuen Koffer sind wohlüberlegt gepackt. «Ja, zum Glück haben mir meine Kinder dabei geduldig geholfen. Ich bin ihnen sehr dankbar.» Dankbarkeit, ja das war ihr schon immer wichtig. Die Wanduhr durchbricht das beruhigendes Tick-Tack, tick-tick… und ihr wohlklingender tiefer Gong ertönt. Es ist zehn Uhr. Und es ist Zeit. Zeit, aufzustehen. «Ja, das Aufstehen. Es macht mir einfach Mühe. Es geht beinahe nicht mehr.» Eins-zwei-drei-vier… eins-zwei-drei-vier… sie hievt sich mit etwas Schwung schwerfällig auf und steht… an ihren Rollator festklammernd. Tick-Tack, tick-tick... Sie zieht ihre farbenfrohe, mit Blumenmuster bedruckte Bluse zurecht. «Ja, die Bluse habe ich mit Sibylle ausgesucht. War ein guter Kauf. Und die Einkauftouren mit ihr immer sehr unterhaltsam. Hab’s genossen.» Geniessen – das war ihr schon immer wichtig. Die Zeit vergeht schnell – zu schnell. Die Hausglocke ertönt– zu schrill – wie seit vielen Jahren schon - durch die Räume. Es ist Fritz… Nun ist’s Zeit. Zeit, die gepackten, farbenfrohen Koffer mit auf die Reise zu nehmen. Sie schaut durch die grossen Fenster beim Esstisch und geniesst den Blick auf ihren Blumengarten. Sie streicht nochmals sanft über das Tischtuch. «Ja, es war eine schöne Zeit. Ich bin dankbar dafür.» Dankbarkeit – das war ihr schon immer wichtig. Tick-Tack, tack-tack …

(BIGÜdaso)